1993 ist ein gutes Jahr: Der Flußregenpfeifer ist Vogel des Jahres, Bundeswirtschaftsminister Jürgen Möllemann tritt zurück, eine neue Spinnenart in Kalifornien erhält den wissenschaftlichen Namen Calponia harrisonfordi und das Fandom vernetzt sich immer stärker. Noch spricht niemand vom World Wide Web; das große Thema sind Mailboxen, wie die Bulletin Board Systems (BBS) landläufig genannt werden. Wer was auf sich hält, besorgt sich ein Modem und wählt sich regelmäßig in seine bevorzugte Mailbox ein, um Nachrichten und Bildchen zu tauschen oder nutzlose Programme herunterzuladen.
Technisch fortgeschrittene Mailboxbetreiber vernetzen sich seit den 80er Jahren per Telefon untereinander im FidoNet, doch 1993 wird geputscht, das Netz spaltet sich in Fido-Classic und Fido-Lite. Obwohl sich die Mailboxbetreiber des deutschen Fandoms zu einem eigenen Netz, dem SF-Net zusammengeschlossen haben, werden auch sie davon berührt, denn natürlich existieren zahlreiche Verbindungen und viele SF-Net-Mailboxen sind gleichzeitig Fido-Nodes.Das System mit der Nodenummer 2:244/6311 steht im unterfränkischen Alzenau. Die „SFCD-Box Mitte“ beherrscht das Wohnzimmer des Malermeisters Martin Kempf, kunstvoll eingebaut in das Gehäuse einer alten Linotype-Fotosatzkonsole. Kempf, den man als Organisator des Fanzine-Konsumentenkreises FKK, vor allem aber als Gründer und Herausgeber des FANDOM OBSERVER kennt, läßt sein System vollautomatisch rund um die Uhr bei anderen Systemen anrufen, um Nachrichten auszutauschen – manchmal auch bei einer alten Dame, nächtens, die wohl noch lange rätselt, wer denn der junge Mann mit der krächzigen Piepsstimme sein mag, der immer zur selben Zeit bei ihr anruft. Dieser Handshake bleibt ewig unvollendet …
Ein gängiges Vorurteil über Science-Fiction-Fans sagt, daß sie dem technischen Fortschritt zugetan, ja, daß sie weltoffene technische Avantgarde seien. Das ist natürlich ausgemachter Blödsinn. Wir wissen nicht, ob Ulf jemals Verbindung aufnehmen wird, aber er sieht eigentlich ganz glücklich aus mit seiner Mehlbox. Und wenn er nicht gestorben ist, dann telefoniert er noch heute mit dem Ding …MANFRED MÜLLER
Links
- Wikipedia: Fidonet
Bemerkenswert, daß all dies inzwischen auch schon wieder 20 Jahre auf den Buckel hat. Ja, die Kempfsche Technikzentrale brachte selbst den Laien zum ehrfürchtigen staunen. Kein Rauminhalt, der nicht mit sekundären & perifären Systemkomponenten bestückt war – und wenn es nur die Pflanzenlichtsteuerung war!
Und ich denke an Übernachtungsgäste, die den Servoantrieb der wohnungsweiten Lautstärkeregelung in die falsche Richtung schubsten und an Gärtner, die durch ausdauerndes Umdrehen auf der Couch den Bewegungsmelder des Pflanzlichtes auslösten. Du weißt schon …